Bayern war nach kurzen evangelischen Episoden in der Reformationszeit und trotz zeitweiser Arbeits-Zuwanderer schnell wieder ein katholischer Flächenstaat geworden. Die Zahl der Protestanten in Grafing war überschaubar, doch ihre Situation unkomfortabel. Die Anlaufstelle für die evangelischen Mitbürger waren schwer zu erreichen, zuerst Feldkirchen, dann Großkarolinenfeld. Also bemühte sich der „Evangelische Verein Ebersberg und Umgebung e.V.“ nach dem ersten Weltkrieg um die Genehmigung für eine eigene Kirche. Treibende Kraft war ein evangelischer Neubürger, Karl Schäfer, aus Ebersberg. Die Genehmigung und die finanziellen Mittel standen 1923 schließlich zur Verfügung.
Die neue Anbindung der Bahn in Grafing Bahnhof machte die Ortswahl Grafing als neues kirchliches Zentrum plausibel. Und so wurde, durch Spenden finanziert, das Gelände des alten Feuerwehrhauses an der Glonner Straße gekauft. Das kleine Gebäude wurde erweitert, erhöht und mit einer Apsis versehen und konnte dadurch tatsächlich einer Schar von mehr als hundert Gläubigen Platz bieten. Nach drei Monaten Bauzeit wurde die Kirche im September 1924 mit großer Feierlichkeit und vielen auswärtigen Besuchern eingeweiht.
Dieser Kirchenbau war etwas Besonderes. Der Architekt war der gebürtige Nürnberger German Bestelmeyer, zu dieser Zeit eine Kapazität nicht nur für sakrale Gebäude. (Er zeichnete u.v.a. auch für Münchner Hochschulbauten und für den Anbau des Nationalmuseums verantwortlich und trat hierbei auch erfolgreich in Konkurrenz zu Theodor Fischer.) Dass in Grafing die Pläne einer fast mittelalterlichen Dorfkirche verwirklicht wurden, welche die traditionellen Vorgaben des evangelischen Kirchenbaus gänzlich außer Acht ließen, liegt sicher an der Nürnberger Umgebung, die Bestelmeyer geprägt hatte.
In altertümlichem Sinne arbeiteten auch die Handwerker und Werkstätten, die für die Einrichtung engagiert wurden. Einige Gegenstände waren von Bestelmeyer sogar selbst geplant und in Auftrag gegeben, so etwa die Wandleuchter aus Messing, die von der Münchner Firma Steinicken und Lohr gefertigt wurden. Vier Messingleuchter und ein Kruzifix wiederum entstanden durch Fritz Schmid, dem Professor und Direktor der Kunstgewerbeschule München, später Teil der Akademie für Bildende Künste. Auch ein Taufstein aus Ruhpoldinger Rotmarmor wurde nach Bestelmeyers Vorgaben beauftragt, den Messingdeckel dafür und einen Opferstock schmiedete Otmar Kees, Dozent der Münchner Gewerbeschule an der Luisenstraße.
Den bedeutendsten Anteil an der Ausgestaltung der Heilandskirche jedoch hatte der Maler Josef Bergmann, ein Anhänger der frühmittelalterlichen Freskomalerei, die er auf Studienreisen in Rom, Assisi und Ravenna studiert hatte. Bergmanns Artefakte kann man nicht nur in der Umgebung, z.B. Kirchseeon, betrachten, etliche Kirchen in München, aber auch in Olching, Kempten und Dollnstein tragen seine Handschrift. Für die Apsis der Grafinger Kirche konzipierte er vier Freskos der Evangelisten und in der Mitte einen proportional größeren Christus. Die frühchristliche Flächigkeit der Fresken gilt heute als qualitätsvolles Werk, für die Grafinger Bevölkerung in den 20er Jahren war sie höchst gewöhnungsbedürftig. Kaum abfinden wollte man sich aber mit dem Bildnis des Christus, dessen beide Augen in verschiedene Richtungen zeigten. Das traditionelle Motiv schielender Heiliger dürfte damals weitgehend unbekannt gewesen sein, es ergibt sich aus der Absicht, den Blick Jesu auf den Evangelisten links neben sich und gleichzeitig auf das Kirchenvolk vor ihm darzustellen.
Es wurde nicht akzeptiert und nach kurzer Zeit wurde der Kopf des Christus erneuert. Da es sich aber um ein Fresko handelte, wurde der Kopf nicht nur übermalt, sondern der ganze Putz herausgebrochen und erneuert. Damit wiederum wollte sich Bergmann nicht abfinden und ließ den Christus zeitweise mit einem Tuch verhängen.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Zahl der Protestanten stark angestiegen war, wurde Bestelmeyers Kirche zu klein. Man gewann den Architekten Franz Lichtblau für einen modernen Kirchenbau und in diesem fanden die meisten der Artefakte der Heilandskirche keinen Platz mehr. Vieles wurde im letzten Moment vor der Abrissbirne gerettet: der Muschelkalk-Unterbau der Kanzel bildet heute das Eck des Hausen an der Glonnerstraße/Gartenstraße. Die Gemälde, welche die Kanzel schmückten - ebenfalls von Bergmann-, hängen im Büro des Gemeinde-Hauses, Wandleuchter und Teile der Kirchenbänke hat ein Privatmann in Sicherheit gebracht, und der Wetterhahn, der das Kirchlein krönte, steht auf dem Kirchenvorplatz.
Den Weg in die neue Kirche gefunden haben aber, neben dem Opferstock, die Evangelisten-Freskos von Josef Bergmann. Mit Hilfe aufwändiger Handwerkskunst des Grafinger Kirchenmalers Helmut Knorr wurden sie von der runden Apsis genommen, begradigt und hinter dem Altar aufgehängt. Als reizvoller Gegensatz zur Moderne der Architektur bieten sie sich in ihrer Ruhe und Unaufgeregtheit der Meditation des Kirchenbesuchers an. Der Christus, hingegen, wurde nicht mehr aufgestellt.
Der einzige wirklich alte Bestandteil, den die Heilandskirche enthielt, war die Kirchenglocke eines Nürnberger Glockengießers, Hans Pfeffer. Sie stammt ausweislich ihrer Inschrift aus dem Jahr 1616. Und sie ist heute noch an der prominenten Stelle, die einer Glocke gebührt, zu hören, dem Kirchturm.
Verfasserin: Eva Niederreiter-Egerer